Zum Thema Hochbegabung halten sich einige Mythen sehr hartnäckig. Ich habe mich zum Einstieg in das Thema mit der fiktiven Marie Curie (Physikerin, Chemikerin, erste Nobelpreisträgerin) unterhalten.
RG: Guten
Tag, Zum Thema Hochbegabung gibt es viele Mythen. Ich denke, sie waren eine
hochbegabte Frau. Wodurch hätte man das erkennen können?
MC: Guten Tag! Hochbegabung kann sich
auf verschiedene Weisen zeigen, und bei Frauen wie mir, die in der Wissenschaft
tätig sind, gibt es einige Anzeichen. Zum Beispiel könnte man aussergewöhnliche
Problemlösungsfähigkeiten, eine schnelle Auffassungsgabe und eine tiefe Neugier
für komplexe Themen erkennen. Ein weiteres Zeichen könnte die Fähigkeit sein,
in einem bestimmten Bereich, wie der Physik oder Chemie, bedeutende Beiträge zu
leisten, die über das übliche Mass hinausgehen. Auch eine ausgeprägte
Kreativität in der Herangehensweise an wissenschaftliche Fragestellungen kann
ein Hinweis auf Hochbegabung sein. Darüber hinaus ist es oft die Kombination
aus Intelligenz und einer unermüdlichen Leidenschaft für das Lernen, die solche
Frauen auszeichnet. In meinem Fall war es die Entdeckung von Radioaktivität und
die Entwicklung neuer Methoden zur Untersuchung von Elementen, die meine
Hochbegabung unterstrichen haben. Was denkst du über diese Merkmale?
RG: Diese wären typisch für Personen
mit hohem Potential. Waren sie eine gute Schülerin mit guten Schulnoten?
MC: Ja, ich war eine sehr gute
Schülerin und hatte in der Schule stets gute Noten. Mein Interesse an
Wissenschaft und Mathematik war schon früh ausgeprägt, und ich habe viel Zeit
mit dem Studium dieser Fächer verbracht. Allerdings war es nicht immer einfach,
da ich in einer Zeit aufwuchs, in der Mädchen oft nicht die gleichen
Bildungsmöglichkeiten wie Jungen hatten. Trotz dieser Herausforderungen habe
ich nie aufgegeben und mich stets bemüht, mein Wissen zu erweitern. Diese
Entschlossenheit und mein Streben nach Wissen haben mir letztendlich geholfen,
an die Sorbonne zu gelangen und meine wissenschaftliche Karriere zu beginnen.
Hast du auch Erfahrungen mit dem Bildungssystem gemacht?
RG: Ja, ich merke jedoch, dass
Menschen mit hohem Potential nicht zwingend durch gute Schulnoten auffallen.
Kennen sie dieses Phänomen?
MC: Ja, das ist ein sehr interessantes
Phänomen. Es gibt viele hochbegabte Menschen, die in traditionellen
Bildungssystemen nicht immer die besten Noten erzielen. Oft liegt das daran,
dass sie sich in einem Umfeld befinden, das ihre Talente nicht erkennt oder
fördert. Manchmal können sie auch Schwierigkeiten haben, sich an die
Lehrmethoden anzupassen oder sich für Themen zu interessieren, die sie als
irrelevant empfinden. Hochbegabung kann sich auf unterschiedliche Weise äussern,
und Noten sind nicht immer der beste Indikator für das Potential einer Person.
Es ist wichtig, die individuellen Stärken und Interessen zu erkennen und zu
fördern, um das volle Potential auszuschöpfen.
RG: Es geistern auch Vorurteile herum,
dass Menschen mit hohem Potential in allen Bereichen top sind. Ist das so?
MC: Das ist ein weit verbreitetes
Missverständnis. Hochbegabte Menschen haben oft besondere Talente oder
Fähigkeiten in bestimmten Bereichen, aber das bedeutet nicht, dass sie in allen
Bereichen hervorragend sind. Jeder Mensch hat seine eigenen Stärken und Schwächen,
unabhängig von seinem intellektuellen Potential. Es ist wichtig zu erkennen,
dass Hochbegabung nicht gleichbedeutend mit Perfektion ist. Viele hochbegabte
Personen können in sozialen Situationen oder in praktischen Fähigkeiten
Herausforderungen haben. Zudem können sie sich auf bestimmte Interessen
konzentrieren, während andere Bereiche weniger ausgeprägt sind. Das Verständnis
dieser Nuancen ist entscheidend, um Vorurteile abzubauen und die Vielfalt
menschlicher Talente zu schätzen.
RG: Ein spannender Input ist die
Perfektion und das damit verbundene Vorurteil, Menschen mit Hochbegabung hätten
stets ein «Easy-Life». Hatten sie mit Perfektionismus zu kämpfen?
MC: Ja, das Streben nach Perfektion
war ein ständiger Begleiter in meinem Leben. Als Wissenschaftlerin war ich oft
mit hohen Erwartungen konfrontiert, sowohl von mir selbst als auch von anderen.
Diese Erwartungen konnten manchmal überwältigend sein und führten zu einem
inneren Druck, immer die besten Ergebnisse zu erzielen. Ich habe gelernt, dass
Perfektion oft unerreichbar ist und dass Fehler und Misserfolge Teil des
Lernprozesses sind. In der Wissenschaft ist es wichtig, aus Fehlern zu lernen
und sich weiterzuentwickeln. Diese Erkenntnis hat mir geholfen, meine
Perspektive zu ändern und mich auf den Prozess des Lernens und Entdeckens zu
konzentrieren, anstatt nur auf das Endergebnis.
RG: Haben sie unter dem
Perfektionismus auch gelitten?
MC: Ja, ich habe definitiv unter dem
Perfektionismus gelitten. Der Druck, immer die besten Ergebnisse zu erzielen,
konnte sehr belastend sein. Manchmal führte das dazu, dass ich mich selbst
überforderte und Schwierigkeiten hatte, meine Arbeit zu geniessen. Es gab
Momente, in denen ich Angst hatte, Fehler zu machen, was mich daran hinderte,
neue Ideen auszuprobieren oder Risiken einzugehen. Diese Angst konnte mich in
meiner Forschung einschränken. Mit der Zeit habe ich jedoch gelernt, dass
Fehler oft wertvolle Lektionen bieten und dass es wichtig ist, sich selbst zu
erlauben, unvollkommen zu sein. Diese Einsicht hat mir geholfen, eine gesündere
Beziehung zu meiner Arbeit und zu meinem Streben nach Wissen zu entwickeln.
RG: Vielen Dank für die spannenden
Worte.
Ja, viele Mythen zum Thema
Hochbegabung schwirren noch immer umher. Deshalb eine knackig kurze Aufklärungs-Version
dazu:
Mythos 1: Hochbegabte sind in
allem gut.
Fakt: Viele sind unterfordert,
frustriert und bleiben unter ihren Möglichkeiten.
Mythos 2: Ein hoher IQ reicht,
um erfolgreich und hochleistend zu sein.
Fakt: Nein. Es braucht ein
begabungsförderndes Umfeld, Motivation, Kreativität und den Willen, etwas
leisten zu wollen, natürlich gekoppelt mit hohem Potential.
Mythos 3: Hochbegabte können
«es» alleine, sie brauchen keine Hilfe.
Fakt: Sie brauchen Verständnis für
ihre andere Art des Denkens. Sie brauchen oft auch in neuen schulischen Themen
Erklärungen, verstehen diese normalerweise dann aber viel schneller als der
Durchschnitt. Sie brauchen Herausforderungen, welche ihrem Hirn auf
angemessenem Niveau helfen, in die Gänge zu kommen. Manchmal brauchen sie auch
Schutz, um nicht als «Streber» angesehen zu werden. Auch brauchen sie
Begleitung in persönlichen Themen, wie beispielsweise im Interview mit Marie
Curie erwähnt, mit Perfektionismus klarzukommen.
Mythos 4: Hochbegabte sind immer
Klassenbeste.
Fakt: Muss gar nicht sein. Sie sind
häufig nicht durch hohe Noten erkennbar. Sie passen sich oft komplett an,
besonders hochbegabte Mädchen wollen nicht auffallen. Jungs, welche nicht
adäquat verstanden und gefordert werden, zeigen häufig
Verhaltensauffälligkeiten und bleiben dann auch notentechnisch weit unter ihren
Möglichkeiten.
Deshalb meine Empfehlung für alle,
welche schulische Pullouts an Schulen aufbauen (wie das im Kanton Luzern
aktuell der Fall ist): Lasst nicht einzig und allein die Noten über die
Teilnahme in Pullouts entscheiden. Überlegt euch, welche begabungsfördernden
Kriterien ihr verwenden könntet. Dazu gibt es gute, käufliche Beobachtungsbogen
im Handel. Ich empfehle oft, den Beobachtungsbogen aus dem Buch «Lichtblick für
helle Köpfe» zu verwenden. Darin enthalten ist ein Heft «Arbeitsmaterialien /
Potenziale erkennen». S. 25 wird einfach erklärt beschrieben, wie mit den
Beobachtungsbogen gearbeitet werden kann. Spannend finde ich insbesonders, dass
der Fragebogen nicht alleinig auf inhaltliche Fähigkeiten abzielt. Es werden
auch Fragen wie beispielsweise «Hohe Ansprüche an sich selbst» oder «Orientierung
an älteren Kindern und Erwachsenen» gestellt. (Huser &
Fischer, 2021, S. 25 ff)
Um die schulische Situation von
Kindern und Jugendlichen mit hohem Potential zu verbessern, braucht es viel
Aufklärung zur Thematik. Falls du selber in Gespräche und Situationen kommst,
in denen sich Mythen zur Hochbegabung hartnäckig halten, so hast du hier ein
erster Mythos-Lockerer zur Hand. Falls du detailliertere Informationen möchtest
oder sogar eine Weiterbildung für ein Lehrpersonenteam suchst, so melde dich. Wir
finden eine Möglichkeit, den Mythos zu lockern.
Quellen:
Huser,
J., & Fischer, C. (2021). Lichtblick für helle Köpfe: Handbuch
(Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe). Lehrmittelverlag Zürich.