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Stärken stärken

„Stärken stärken: die vielleicht kürzeste Formel für
zeitgemässe Schule
.“ (Christian Müller)

 

Im NZZ-Artikel vom 8. August wünscht sich Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Uni Freiburg, folgenden Paradigmenwechsel: „einen positiven Blick auf die Kinder.“

 

Diese Aussage ergreift mich. Ich bin persönlich total davon überzeugt, dass dies die Richtung ist,
welche unsere Schule einschlagen muss.

Nachfolgend teile ich den NZZ-Artikel vom 8. August. Mach dir selber deine Gedanken. Vielleicht
hinterlässt du einen Kommentar? Das würde mich freuen.

 

 

Lehrer lieben ihren Job – und kommen doch regelmässig an ihre Grenzen

Die fünfte Studie zur Berufszufriedenheit zeigt: Die Deutschschweizer Lehrer geben ihrem Beruf nur die Note 4,2. Das hat auch mit der integrativen Schule zu tun.

Im Jahr 2002 titelte die NZZ: «Schweizer Lehrer sind unzufriedener geworden». Im Jahr 2014 berichtete sie, die Lehrpersonen seien gestresst und litten unter Überforderung und Burnouts. Zehn Jahre später hat sich daran offenbar wenig geändert. Das zeigt die fünfte repräsentative Studie
des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer. 16 500 Lehrer, schulische Heilpädagogen oder Schulleiter aus der Deutschschweiz und 2230 Personen in der Romandie wurden dafür online befragt. Resultat: Deutschschweizer Lehrpersonen geben ihrem Beruf nur die Note 4,2. In der Westschweiz reicht es mit der Note 3,9 nicht einmal für ein «genügend».

Viele Lehrpersonen freuen sich zwar laut der Studie über die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten, und sehen einen Sinn in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Auch sehen sie die Löhne positiver als bei der letzten Befragung im Jahr 2014. Doch die Lehrer leiden unter dem administrativen Aufwand sowie der Belastung durch die integrative Schule und die individuelle Förderung. Dazu kommen der Lehrermangel und die Digitalisierung des Unterrichts.

«Grundsätzlich sind Lehrpersonen glücklich im Beruf, aber es gibt Warnsignale», sagte Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), am Donnerstag in Bern vor den Medien. Viele Lehrerinnen und Lehrer könnten in der Freizeit nicht mehr abschalten.
«Sie kommen dann ins Grübeln und verlieren ihr Selbstbewusstsein», sagte Rösler. Das führe zu einer abnehmenden Unterrichtsqualität oder Burnouts.

Zurück zur Förderklasse?

Einige Politiker dürften sich durch die neuen Studienergebnisse bestätigt fühlen, beispielsweise Thierry Burkart. Seine FDP sorgt sich um das Wohl der Lehrer und Schüler und um die Qualität der Schweizer Bildung. Im Juni hat die Partei ein Positionspapier publiziert. Dabei bezieht sich der Freisinn unter anderem auf die Pisa-Studie 2022. Diese hat ergeben, dass 25 Prozent der 15-Jährigen nicht verstehen, was sie lesen, und auch die mathematischen Kompetenzen sich verschlechtert haben.

Burkart macht unter anderem die integrative Schule verantwortlich, diese sei «gescheitert», sagte er Ende Juni dem «Tages-Anzeiger». Die Schule integriere zu viele «Sonderfälle» in die Regelklassen. Die FDP fordert daher einen Marschhalt, man müsse zu «geordneten Klassenverbänden mit weniger Bezugspersonen» zurückkehren.

Davon hält die oberste Lehrerin Dagmar Rösler allerdings nichts: «Die integrative Schule ist nicht der Beelzebub», sagte sie am Donnerstag. Die Mehrheit der Schweizer Lehrpersonen stehe hinter dem
integrativen Anspruch. Diese Aussage hat der Lehrerverband allerdingswissenschaftlich nicht abschliessend geklärt. So hat die Studie die Lehrpersonen nicht explizit gefragt, ob sie die integrative Schule sinnvoll finden oder sie als gescheitert betrachten. Rösler zieht ihre Überzeugung vielmehr aus den freien Kommentaren, welche Lehrpersonen im Fragebogen anfügen konnten, und aus Gesprächen mit den Kantonalverbänden.

Ausserdem weist Rösler auf die Forschung zu den Vor- und Nachteilen der integrativen Schule hin. Eine Studie aus St. Gallen zeigt, dass das Modell über alle Bevölkerungsgruppen hinweg wirksamer ist als separative Klassen. Dabei gibt es aber einen Kipppunkt: Wenn es zu viele verhaltensauffällige Kinder in der Klasse hat, leidet die Leistung der Mitschüler. Die kritische Grenze liegt bei 15 bis 20 Prozent, also etwa vier Kindern pro Schulzimmer. Die Lösung liegt aus Sicht des Lehrerverbands bei mehr Ressourcen, es brauche mehr Lehrpersonen, Therapieangebote und Räume.

In diese Richtung entwickelt sich die Diskussion auch in verschiedenen Kantonen. In Zürich haben Politiker von FDP, GLP und SVP Mitte Juli die kantonale Förderklassen-Initiative eingereicht. Sie wollen separate, heilpädagogisch geführte Klassen einführen. Dort sollen verhaltensauffällige
Schüler für mindestens ein halbes Jahr unterrichtet werden können, bevor sie in den Regelunterricht zurückkehren. In Basel-Stadt diskutiert das Parlament aufgrund einer Initiative ebenfalls punktuelle Separationsgruppen und zusätzliche Fördermassnahmen, hält aber im Grundsatz auch an der Integration fest.

Zu viele Diagnosen?

Das alles geht ins Geld. Die Basler Regierung hat die zusätzlichen Fördermassnahmen auf 16,2 Millionen pro Jahr veranschlagt. Mit jährlichen Ausgaben von 1,5 Milliarden hat Basel-Stadt jetzt schon die teuerste Schule der Schweiz. Doch auch im landesweiten Schnitt sind die Kosten der obligatorischen Schule in den letzten zwanzig Jahren gestiegen. Am deutlichsten wird das, wenn man die Ausgaben pro Kind anschaut. Der reine Personalbedarf pro Schüler 2021 betrug laut Bundesamt für Statistik im Schnitt 14 772 Franken, das sind 50 Prozent mehr als noch vor zwanzig Jahren.

An der Zufriedenheit der Lehrpersonen hat sich dennoch nichts verbessert, im Gegenteil. Man kann deshalb die Frage stellen, ob mehr Ressourcen die Situation in den Klassenzimmern tatsächlich entschärfen. Oder ob es den Lehrpersonen vielleicht an Belastbarkeit mangelt. «Sicher nicht», sagt
Margrit Stamm. Sie ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg und nimmt die Lehrpersonen als sehr «engagiert und motiviert» wahr. Auch die integrative Schule findet sie sinnvoll. Das Problem ortet sie auf höherer Ebene: «Die Bildungspolitik nimmt die Ursachen zu wenig ernst», sagt Stamm.

Einen Grund für die zunehmende Belastung sieht sie in den vielen Diagnosen: «Immer mehr Kinder werden als abnormal oder therapiebedürftig eingeschätzt», sagt Stamm. Das führe zu grosser Unsicherheit bei den Kindern, bei den Eltern und im Klassenzimmer. Stamm führt aus: «Wenn Sie ein Kind abklären, finden Sie immer etwas Negatives», sagt sie. Die Folgen seien prekär: Kinder kämen zu der Überzeugung, mit ihnen stimme etwas nicht, und die Eltern brächen in Panik aus. «Sie fürchten, dass aus ihren Kindern später nichts Anständiges wird.» Diese Angst trügen die Kinder direkt ins Klassenzimmer, die Folge sei noch mehr Unruhe.

Für Stamm braucht es deshalb einen Paradigmenwechsel: einen positiven Blick auf die Kinder. Wenn das ganze Schulsystem mehr auf die Fähigkeiten der Kinder ausgerichtet werde statt auf ihre Defizite, stiegen das Selbstvertrauen und die Bereitschaft der Schüler, schwierige Themen anzugehen und Probleme zu lösen. Das mache das Unterrichten für die Lehrpersonen einfacher und steigere die Leistung und die Frustrationstoleranz der Kinder.

Lehre stärken

Klingt das nicht zu gut, um wahr zu sein? Nein, sagt Stamm. Es gebe bereits heute Schulen, die solche Ansätze ausprobierten, etwa die Oberstufe Wädenswil. Aber es brauche ein grosses Umdenken in den
Erziehungswissenschaften, der Politik und in den pädagogischen Hochschulen.

Damit dieser Fokus auf die Fähigkeiten und Talente der Kinder besser funktioniert, müsste die Schweiz sich allerdings auch gegen die zunehmende Akademisierung der Schule wehren. «Heute braucht eine Hebamme eine Matur, das kann es doch nicht sein», sagt Stamm. Es sei wichtig, die Lehre aufzuwerten und Kindern aufzuzeigen, dass es auch ohne Gymnasium gute berufliche Perspektiven gebe. Auch das führe zu einer Entspannung in den Familien und Klassen. «Es ist höchste Zeit, dass die Politik reagiert», sagt Stamm. Sonst leiden alle weiter: die Kinder, die Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer. (Fopp, 2024)

Quelle:

Fopp, A. (2024, August 8). Schweizer Lehrer am Limit: Integrative Schule ist anspruchsvoll. Neue Zürcher Zeitung. https://www.nzz.ch/schweiz/schule-am-anschlag-lehrer-fuehlen-sich-ueberlastet-ld.18424

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