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Was ist eigentlich Neurodivergenz?

 

 

Wie der Begriff „Neurodivergenz“ bereits im Wortteil „Neuro“ andeutet, hat dieses Thema mit unserem Nervensystem und der Funktionsweise des Gehirns zu tun. Das Wort setzt sich aus den Bestandteilen „Neuro“ (für Nerven) und „Divergenz“ (für Abweichung oder Vielfalt) zusammen. Diese sprachliche Zusammensetzung beschreibt jedoch nur die Oberfläche. Neurodivergenz ist ein hochaktuelles Thema, das zunehmend erforscht wird und dadurch immer mehr Aufmerksamkeit erhält. Interessanterweise besteht auch ein Zusammenhang mit Hochbegabung. Mehr dazu erfährst du im folgenden Artikel.

 

Bei meinen Recherchen zu diesem Thema bin ich im Buch „Ein Kopf voll Gold“ (Niechzial, 2024) auf eine für mich stimmige Definition von Neurodivergenz gestossen. Die Autorin Saskia Niechzial unterscheidet dabei ganz klar zwei Begriffe

·       Neurodivers

und

·       Neurodivergent.

 

Diese müssen zwingend voneinander unterschieden werden.

Neurodiversität

..beschreibt schlichtweg die gesamte Vielfalt neurologischer Gegebenheiten innerhalb einer Gruppe. So wie wir uns im äusseren Erscheinungsbild voneinander unterscheiden, gross oder klein sind, verschiedene Hautfarben haben, so gilt das auch für die Art und Weise, in der unser Gehirn uns wahrnehmen, denken und fühlen lässt. Jeder Mensch zeigt da individuelle Ausprägungen. Dieser Blickwinkel entstand in den 1990-er-Jahren. Massgeblich an dieser Bewegung beteiligt war Judy Singer.Sie wehrte sich als Tochter einer autistischen Mutter entschieden gegen die Pathologisierung von Denkstrukturen und Verhaltensweisen, die nicht der gesellschaftlich festgesetzten Norm entsprachen. Zentrale Idee des Konzepts der Neurodiversität ist es, neurologische Vielfalt als gewinnbringende Selbstverständlichkeit zu sehen und nicht als etwas, das mit allen Mitteln angeglichen werden müsse. So ist der Weg geebnet, das Potenzial und die Stärken der jeweils unterschiedlichen Funktionsweisen unserer Gehirne zu erkennen und auch zu nutzen.

 

Neurodivergenz

…beschreibt das Phänomen, dass es innerhalb dieser vorhandenen Vielfalt Personen mit abweichenden, also divergenten neurologischen Strukturen gibt, die ausserhalb dessen liegen, was als generelle Norm wahrgenommen wird. In unserer Gesellschaft und Kultur werden beispielsweise über Jahrhunderte trotz unserer äusserlichen Vielfältigkeit immer bestimmte, sich durchaus aber wandelnde Erscheinungsbilder als „normschön“ etabliert. Und ebenso ordnete man auch bestimmte Verhaltensweisen sowie Denk- und Wahrnehmungsstrukturen als das Reguläre ein. Alle Menschen, die sich anders verhielten oder wahrnahmen, fielen aus diesem Rahmen und galten als auffällig. Und genau diese Unterscheidung wird seit Anfang der 2000er-Jahre mit den gegenüberstehenden Begriffen „neurotypisch“ und „neurodivergent“ beschrieben. Neurodivergente Gruppen oder Einzelpersonen entsprechen also in der Funktionsweise ihres Gehirns nicht der neurotypischen Norm. Die austistische Aktivistin Kassiane Asasumasu beschreibt dies so: „Neurodivergent bezieht sich auf neurologisch abweichend von typisch. Das ist alles.“ (Niechzial, 2024, S. 20)

 

Wann wird nun von neurodivergenten Formen gesprochen? Gängige Beispiele dafür sind:

·       Autismus-Spektrum (ASS)

·       ADHS

·       Legasthenie

·       Tourette-Syndrom

·       Dyskalkulie

·       Hochbegabung

·       Dyspraxie

·       AVWS (Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmunsstörung)

 

Da hinein gehört auch die Hochsensibilität, obwohl man laut der aktuellen Wissenschaft diese bis heute noch nicht diagnostiziert. Sie gilt lediglich als ein Persönlichkeitsmerkmal.

 

Weshalb ist jemand neurodivergent?

Bei den meisten neurodivergenten Formen ist eine endgültige Klärung der Ursachen nicht abgeschlossen. Geklärt ist, dass eine Komponente sicher genetischer Herkunft ist. Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr hoch, dass es in einer Familie mehrere neurodivergente Personen gibt.

 

Wie in der Einleitung bereits erwähnt, möchte ich im Weiteren auf den Zusammenhang von Neurodivergenz und Hochbegabung eingehen.

 

Hochbegabte Menschen sind automatisch auch neurodivergente Menschen. Sie denken, fühlen und reagieren intensiver. Das Gehirn hochbegabter Menschen zeigt oft eine erhöhte neuronale Plastizität und Aktivität in bestimmten Bereichen. So ist, entgegen der landläufigen Meinung, eine Hochbegabung Segen und Fluch zugleich. Denn das intensive Fühlen kann die betroffene Person, sowie dessen Umfeld einerseits beflügeln, andererseits auch belasten. Beleuchten wir hier nun jedoch ausgiebig die positiven Aspekte einer Hochbegabung, so trifft der Buchtitel von Niechzial wieder voll ins Schwarze: «Ein Kopf voll Gold».

Wenn wir über die Begleitung neurodivergenter Kinder – darin Kinder mit einer Hochbegabung eingeschlossen – sprechen, dann sind wir schnell vor allem bei den Anforderungen, Anstrengungen und den vielen kleinen Alltagshürden. Das ist durchaus wichtig, denn es fehlt gesellschaftlich definitiv an Sichtbarkeit und Verständnis für die besondere Situation von Eltern neurodivergenter Kinder. Gleichzeitig darf der positive Blick darauf nicht fehlen. Wenn wir mit unseren Kindern zuversichtlich in ihre Zukunft gehen möchten, dann ist es wertvoll, die eigene Blickrichtung regelmässig auszubalancieren. (vgl. Niechzial, 2024, S. 139)

 

Mal ehrlich, dies ist je nach eigener Situation gar nicht so einfach! Aber: Viele Stärken lassen sich übergreifend bei verschiedenen neurodivergenten Formen finden, weshalb es lohnenswert ist, diese Goldschätze mal zusammengestellt zu betrachten. Natürlich zeigen sich bei allen Menschen individuelle Unterschiede.

Neurodivergente Kinder…

·       Haben meist eine grosse Willensstärke.

·       Sind in unterschiedlichen Bereichen besonders kreativ.

·       Sind ehrlich und haben oft die Fähigkeit, Unehrlichkeit zu enttarnen.

·       Zeigen hohes Gerechtigkeitsempfinden.

·       Haben entweder einen wertvollen Detailblick oder überblicken das grosse Ganze.

·       Finden individuelle und unkonventionelle Lösungswege. (In der Geschichte der Menschheit hat das sehr wahrscheinlich einen tragende Rolle gespielt.)

·       Zeigen ein starkes Langzeitgedächtnis.

·       Sind neugierig.

·       Stellen schnell komplexe Zusammenhänge und Verknüpfungen her.

·       Verfügen über ein gut ausgeprägtes logisches Denkvermögen.

·       Geben sich nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden (alles muss einen Sinn ergeben!)

·       Können schnell Ideen abliefern.

·       Sind extrem begeisterungsfähig.

·       Können sehr überzeugend sein.

·       Sind im Denken unabhängiger.

·       Sind wissbegierig und vielfältig interessiert.

·       Haben eine besonders rasche Auffassungsgabe.

·       Zeigen bei ausgewählten Themen eine starke Konzentrationsfähigkeit und ein hohes Durchhaltevermögen.

 

 

Ein Goldschatz, nicht wahr? Vielleicht hilft dieser Perspektivenwechsel, insbesondere als Mutter, Vater, Lehrkraft oder Erzieher*in, ein neurodivergentes Kind mit neuen Augen zu sehen – gerade in Momenten, die besonders herausfordernd erscheinen. Wenn die Tage lang und die eigenen Energiereserven knapp sind, kann ein solcher Blickwinkel Wunder wirken.

Der englische Begriff für „Hochbegabung“ gefällt mir in diesem Zusammenhang besonders: Gifted – beschenkt. Dieses Wort erinnert uns daran, das Potenzial, das Besondere, das Geschenk zu sehen, auch wenn es im Alltag manchmal verborgen scheint.

Die Vorweihnachtszeit steht vor der Tür. Nimm das Geschenk, das dein Kind in seinem Wesen trägt, oder das Geschenk, das du selbst bist, mit Freude und Dankbarkeit an. «Ein Kopf voll Gold» , auch wenn es im Alltag nicht stehts glitzert.

 

Verwendete Literatur:

Niechzial, S. (2024). Ein Kopf voll Gold: Was neurodivergente Kinder brauchen und wie wir sie stärken können (1. Auflage). Julius Beltz GmbH & Co. KG.

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